Anatomie des Alltags

„Beim kreativen Akt gelangt der Künstler von der Absicht zur Verwirklichung durch eine Kette völlig subjektiver Reaktionen. Sein Kampf um die Verwirklichung ist eine Serie von Bemühungen, Leiden, Befriedigungen, Verzichten, Entscheidungen, die, zumindest auf der ästhetischen Ebene, ebenfalls nicht völlig bewusst sein können und bewusst sein müssen.“
Marcel Duchamp

Ein einfacher Tisch irgendwo im Raum, durchdrungen von einem Elektrokabel, Putzeimer, die mit Haut verschlossen sind, Giesskannen, Schöpflöffel aus Draht, die nichts fassen können; dazwischen immer wieder Objekte und Arrangements, in denen der eine oder andere Gegenstand wiederzuerkennen ist, dem man täglich begegnen kann, in der Küche, in einer Werkstatt, am Wegrand.

Dinge des alltäglichen Lebens, herausgerückt aus ihrem gewohnten Kontext, mit mehr oder weniger starken Eingriffen ab- und umgewandelt, verfremdet, nachgebildet, neu geordnet und strukturiert – Kompositionen aus banalen Gegenständen und Materialien, so gewöhnlich und gewohnt, dass sie in der Realität kaum wahrgenommen werden. Ein Tisch ist ein Tisch, doch seiner nützlichen Signifikanz entzogen und aus einem neuen Blickwinkel betrachtet ist er nicht mehr Gegenstand des Alltags. Er erhält eine neue Realität, wird zum Kunstobjekt. Die Werke von Barbara Geyer sind Reflexionen über die uns unmittelbar umgebende Wirklichkeit. Was dem Betrachter entgegentritt ist die Ästhetik des Einfachen und Naheliegenden, die Verbildlichung von Gewohnheiten und Riten.

Dass in der bildenden Kunst Alltagsgegenstände darstellungswürdig werden konnten, verdankt sich einer kunstgeschichtlichen Entwicklung im 20. Jahrhundert, an deren Anfang Marcel Duchamp steht. Er formuliert die Frage „Kann man Werke schaffen, die keine ‹Kunst›-Werke sind?“ und antwortet mit der Schöpfung des Ready-mades, indem er einen gekauften Gebrauchsgegenstand signiert und ausstellt. Wenngleich es sich dabei vor allem um eine kritische Hinterfragung des Kunstbetriebs handelt, wird hier erstmals eine Verbindung zwischen Kunst und Alltagsleben geknüpft, die in der Folgezeit von zahlreichen Künstlern immer wieder thematisiert wird. „Kunst ist Leben – Leben ist Kunst“ formuliert explizit der Fluxus-Künstler Wolf Vostell und fügt alltägliche Gegenstände in seine Kompositionen ein wie Fernseher, Telefone oder Lippenstifte, giesst Autos in Beton. Kaum jemand vertritt diesen Anspruch so wörtlich wie Joseph Beuys, wenn er seinen Lebenslauf als „Werklauf“ beschreibt und postuliert „Jeder Mensch ist ein Künstler“. Diese Aussage – wenngleich häufig falsch interpretiert und missbraucht – verspricht, dass im Alltäglichen die Möglichkeit zu kreativem Handeln liegt, die grundsätzlich jeder Mensch potentiell ergreifen kann.

Unser Alltag läuft – in der Regel – nach sich beständig wiederholenden Mustern ab, welche Wachen und Schlafen, Arbeit und Freizeit, Lebenserhaltung – Bekleiden, Kochen, Essen – und Kommunikation strukturieren. Die regelmässigen Handlungen und die gewöhnlichen Gegenstände des täglichen Lebens verbinden subjektive Faktoren – beispielsweise des Geschmacks, der individuellen Vorlieben und Prägungen – mit objektiven Gegebenheiten wie der existentiellen Notwendigkeit von Nahrungsaufnahme und Schlaf. Die Werke von Barbara Geyer entwickeln sich in diesem Spannungsfeld und in Abhängigkeit vom jeweiligen Lebensraum.

Unmittelbar verbunden mit dem individuellen Erleben, auch mit der Beobachtung des eigenen Körpers in Abhängigkeit von äusseren Faktoren wie Lebensraum oder Zeitlauf, sind die Brotarbeiten von Barbara Geyer. Während eines Aufenthalts in New York manifestiert sich ihre Wahrnehmung der Andersartigkeit des täglichen Lebens im Mangel an gehaltvollem Brot. Hin und her gerissen zwischen Faszination und Fremdheitsgefühl mischen sich in die Sehnsucht nach diesem Grundnahrungsmittel Reflexionen über Verwurzelung und Herkunft, über bestehende Werte und neue Orientierungen.

Der Akt des Brotkauens an sich vermittelt Innigkeit und Intimität; mit ihm verbinden sich Gedanken und Empfindungen, die um urmythische Werte kreisen, um die Schaffung von Behausung, um Schutz für Leib und Seele, um Lebenserhaltung und Authentizität; der Begriff der Einverleibung bzw. „Einverlaibung“ drängt sich auf. Die Brothäuser, deren Produktion an den Nestbau der Schwalben und deren Form an einfache Lehmbauten erinnern, bilden das Gefäss für subjektive Befindlichkeiten. Ein Video dokumentiert, fokussiert auf den Mund der Künstlerin, überdimensional und ausschnitthaft den Vorgang des Kauens. Damit öffnet sich das Subjektive für den Betrachter und das Private wird öffentlich, bietet sich an zur (An-)Teilnahme, Zustände des Äusseren und Inneren werden in ein Spannungsfeld gebracht. Anlässlich der Ausstellung greift die Künstlerin diese Arbeit nochmals auf und thematisiert das Beheimatet-sein in der Heimatlosigkeit, ein sensibel wahrgenommenes Paradoxon.

So wie sich hier das Werk sehr unmittelbar mit dem Leiblichen der Künstlerin verknüpft, hat auch die Haararbeit eine biographische und gewissermassen biomorphe Konnotation: Für Barbara Geyer bedeutet ihr Haar, das sie über siebeneinhalb Jahre lang wachsen lässt und in „Rasta-Manier“ verfilzt, Schutz und Abgrenzung, die sie aus sich selbst hervorbringt wie die Seidenraupe den Faden für ihren Kokon. In Hinsicht auf die gegenwärtige Ausstellung schneidet sie während eines Aufenthalts in Kirgisien in einer privaten Performance, filmisch festgehalten, ihr Haar. Diesen Vorgang, der rituelle Züge aufweist und von tiefer Innerlichkeit ist, macht sie nicht öffentlich, bewahrt ihn als ihr erlebtes Eigentum. Zu einem 51 Meter langen Seil zusammengefilzt, das nun auf unterschiedlichste Art – für dieses Mal als Sprungseil – zum Einsatz kommt, veranschaulicht das Haar Lebens-Zeit-Raum; Wachstumsintervalle – und damit Zeit – sind ablesbar an der unterschiedlichen Farbigkeit der Haarabschnitte. Auf diese Weise werden Grenzen zwischen Kunst und Leben ausgelotet beziehungsweise die fliessende Grenzüberschreitung anschaulich gemacht.

Im Gleichmass alltäglicher Handlungen nimmt die Wiederholung zwangsläufig grossen Raum ein. Diese kann einerseits als Monotonie und Langeweile, andererseits als Aufgehobensein im Vertrauten wahrgenommen werden. Letzteres wird formal wirksam in den seriellen Arbeiten von Barbara Geyer. Materiell greift sie auf unprätentiöse, einfache Werkstoffe zurück wie Draht und Wursthaut oder Schlauchgummi. Alltagsgegenstände erhalten eine massgeschneiderte Gewandung aus engmaschig geknüpftem Draht, Begriffe wie „made to measure“ – im gedanklichen Gegensatz zum Ready-made – und „Heimarbeit“ sind der Künstlerin in diesem Zusammenhang wichtig. Nahezu meditativ ist das tägliche Pensum des „Drahtens“, obwohl die Arbeit beständig einen wachen Entschluss verlangt über Verlauf und Dichte der Drahtmaschen und die Grenzen des Machbaren. Vor dem Hintergrund eines schon früh angelegten ethnologischen Interesses erinnert Barbara Geyer mit diesen Arbeiten auch an die Kunst des Rastelbindens der Zigeuner: Das Einbinden ist somit auch das Eingebundenseins in Geschichtlichkeit, hergestellt über die gedankliche Verbindung zu alten handwerklichen Traditionen, die aus unserem Alltagsleben verschwunden sind.

Das Verschwinden beziehungsweise Schwinden
Das grösste und vielleicht empfindsamste Organ des Menschen ist die Haut. Sie ist die Grenze zwischen körperlichem Innenraum und Aussenwelt. Gleichermassen abschliessende Umhüllung und durchlässige Membran, kommuniziert sie zwischen dem Innen und Aussen, ist leicht verletzbar und bietet doch Schutz. Indem Barbara Geyer Gegenstände mit Naturin-Wursthaut umhüllt, lotet sie Raumbeziehungen aus. Dabei geht es einerseits um das Verhältnis zwischen Gegenstand und Benutzer im räumlichen Kontext, andererseits um den Gegenstandsraum selbst. Dort, wo dieser durch einen Benutzer üblicherweise durchdrungen oder verletzt wird, markiert die Künstlerin den Kontakt, die Durchdringung. Abgrenzung sowie Grenzüberschreitung und Verletzbarkeit des Gegenstandsraumes stehen metaphorisch für die Verletzlichkeit der individuellen Aura und des intimen Lebensraums des Menschen durch alltägliche Handlungen

Die Künstlerin schöpft aus dem Fundus der alltäglichen Dingwelt. So entstehen Parallelitäten, eine verwandte Aufmerksamkeit für das Banale, das Unbedeutende im täglichen Leben. Dennoch ist die Formulierung jeweils eine wesentlich andere. In der Ausstellung treffen sie aufeinander als eigenständige Werkgruppen, deren künstlerische Reise den gleichen Ausgangspunkt hat. Hier begegnen sie sich in einer „Wohngemeinschaft“, die ihnen vorübergehend die Möglichkeit des direkten Dialogs eröffnet.

Cornelia Wieczorek (2006)