Un-Gutkraut
2016

Technik
Tusche auf Transparentpapier

Masse
240 x 157 cm

11 Zeichnungen

Titel

01
Japanischer Knöterich

02
Hase und Ambrosia Artemisifolia

03
Jesuskind zwischen Riesenbärenklau und Co

04
Engel mit indischem Springkraut

Fotos
Günter König, Dornbirn/A

Neben Objekten, Skulpturen, Installationen und Filmen nehmen im künstlerischen Schaffen von Barbara Geyer umfangreiche Serien von Zeichnungen eine bedeutende Stellung ein. Bereits die Blätter der Serien „Rhizom" und „Aus-Zeit" entstanden aus der Beobachtung der Natur und waren dem Bedürfnis geschuldet, die transformatorischen Prozesse alles Lebendigen zu reflektieren und ins Ästhetisch-Anschauliche zu übertragen. Dieses Bedürfnis ist im gesamten Oeuvre der Künstlerin spürbar.

Die frühere Serie „Rhizom" zeigt ein komplexes verwurzeltes Geflecht biomorpher Formen, die sich unendlich auszudehnen und zu durchdringen scheinen. Während die Bildelemente hier gänzlich abstrahiert und phantastisch erscheinen, wirken jene der Serie „Aus-Zeit" real und muten nahezu wie wissenschaftliche Illustrationen an – Pflanzen und Tiere sind hier „real" und definierbar wiedergegeben. Die jüngste Serie „Un-Gutkraut" schliesst mit grossformatigen Tuschezeichnungen an diese beiden Werkgruppen schlüssig an. Einmal mehr zeigt letztere auf, dass es um die künstlerische Vergegenwärtigung dessen geht, dass alles Lebendige durch offensichtliche sowie verborgene Lebenslinien miteinander in Austausch und Abhängigkeit steht. In einem weiteren gedanklichen Schritt umfasst dies darüber hinaus, dass auch die unbelebte Welt, nicht nur der Natur, sondern auch der alltäglichen Dinge und Artefakte, den unterschiedlichsten Abhängigkeiten unterliegt.

Schon lange beschäftigt sich die Künstlerin mit dem Phänomen der Neophyten und beobachtet dabei, dass dies viel komplexer ist, als es auf den ersten Blick zu sein scheint. So stellt sie sich vor allem die Frage, ob Neophyten, also pflanzliche Migranten, eine ausschliesslich negative Erscheinung sind. Einige Wissenschaftler verlangen in diesem Zusammenhang eine wertfreie Diskussion. Sie betrachten den Sachverhalt differenziert und unterscheiden zwischen den für die heimische Flora gefährlichen, invasiven und den ungefährlichen Pflanzen-Migranten, beziehungsweise solchen, die den Verlust eines Wertes durch einen neuen ersetzen.

Auch der Blick der Künstlerin richtet sich zunächst wertneutral auf die Einwanderung des Fremden ins Angestammte und Beheimatete. Anschaulich macht Barbara Geyer dies mit einer künstlerischen „Invasion" in gezielt ausgewählte und von ihr im Ausschnitt als Vorlage benutzte Gemälde alter Meister: Bei der Betrachtung vorwiegend christologischer oder mythologischer Darstellungen der Renaissance weckten vor allem die realistischen und differenzierten Pflanzendarstellungen ihr Interesse. An der Schnittstelle vom Mittelalter zur Neuzeit etablierte sich das Bedürfnis, neben dem symbolhaften Kontext auch ein naturwissenschaftliches Interesse anschaulich zu machen. So galt es nicht nur, den Symbolgehalt etwa einer Nelke (Passion Christi) oder einer Lilie (Jungfräulichkeit Mariens) zu vermitteln; mit der wirklichkeitsgetreuen botanischen Pflanzendarstellung ging auch die Wertschätzung gegenüber kleinsten Teilen der göttlichen Schöpfung einher sowie der Hinweis auf ein geistiges Erwachen und die Etablierung eines Begriffs von Wissenschaft.

Barbara Geyer „migriert" nun in die von ihr ausgewählten Gemälde beispielsweise von Piero del Pollaiuolo, Lorenzo Lotto, Filippo Lippi oder Piero di Cosimo fremde Pflanzenarten, ersetzt die Lilie durch Indisches Springkraut (Pollaiuolo), die Myrte durch Beifussblättriges Traubenkraut (Piero di Cosimo) oder Rose und Nelke durch Karde und Kanadisches Berufskraut (Filippo Lippi). Die „Invasion" findet hier in zweifacher Hinsicht statt: zum einen durch den „Eingriff" in das fremde Kunstwerk, zum anderen durch den Austausch von Pflanzen mit symbolischer Bedeutung gegen solche, die in unseren Breiten als Neophyten definiert werden.

Die Bildausschnitte der Altmeistergemälde mit neuer „Bepflanzung" setzt die Künstlerin nun wiederum in ein Weltkartenraster und scheint damit anzudeuten, dass im Zeitalter der Globalisierung alles im Wandel und im Wandern begriffen ist und sich dennoch innerhalb einer vom Menschen definierten Ordnungsstruktur bewegt. Damit könnte auch die provokante Frage einhergehen, ob die neuen Arten tatsächlich nur Nachteile, Verwirrung und Verdrängung mit sich bringen oder vielleicht auch Vorteile, indem man deren Fähigkeiten nutzbringend einsetzt; ob es nicht so sehr Bedrohung als vielmehr ein natürlicher Prozess ist, dass das Fremde vor Grenzen und Schranken nicht halt macht. In diesem Sinne geht es hier nicht mehr nur um die Auseinandersetzung mit Neophyten, sondern ganz allgemein um die Erweiterung des Blickfeldes und der Denkmuster sowie um das wertneutrale Beobachten dynamischer Lebensprozesse.

Cornelia Kolb-Wieczorek